Die Corona-Krise hat international massive Auswirkungen auf die Konjunktur, den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsleistung in allen Industriestaaten der Welt. Dies haben wir in unserem letzten Blog-Beitrag bereits dargelegt. An dieser Stelle wollen wir der Frage nachgehen, ob die aktuellen Veränderungen der Beschäftigungslage zu einer nachhaltigen „Entspannung“ des Arbeitsmarktes bzw. einer Erleichterung bei der Rekrutierung von Fachkräften und sog. „Knowledge Workern“ geführt hat.
Hier zunächst die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der softgarden e-recruiting GmbH. Danach meinten 75,1% der befragten Bewerber und 71,5% der Personalverantwortlichen, dass es durch die Corona-Krise mehr Bewerber geben werde, die um weniger Stellen konkurrieren. Allerdings waren 84% der Personalverantwortlichen auch der Meinung, dass der Fachkräftemangel in Zeiten Coronas unverändert bleibt und weiterhin noch zunimmt![1]
Woran liegt das? Was sind die wesentlichen Determinanten dieser Entwicklung?
Hier nun die wichtigsten Ergebnisse einer Studie des McKinsey Global Institute (MGI), die die Zukunft der Arbeitswelt und des Europäischen Arbeitsmarktes vor dem Hintergrund der wesentlichen demographischen und technologischen Entwicklungstrends untersucht. Die Studie erstreckt sich auf rd. 1.100 regionale Wirtschaftsräume in 27 EU-Länder sowie England und die Schweiz. Untersucht wurde primär, inwieweit sich Wanderungsbewegungen, die Automatisierung von Arbeitsprozessen und der Einfluss Künstlicher Intelligenz (KI) auf die einzelnen Berufsbilder, die erforderlichen Skills sowie die Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung in diesen Wirtschaftsräumen auswirken[2]. Hier die wichtigsten Ergebnisse:
- Zwischen 2007 und 2018 haben 48 Städte mit Bevölkerungswachstum, darunter Amsterdam, Kopenhagen, London, Madrid, München und Paris (» 20% der Europäischen Bevölkerung) rd. 43% des Europäischen BSP-Wachstums, 35% des Arbeitsmarkt- sowie 40% des Bevölkerungswachstums generiert.
- COVID-19 hat eine langanhaltende Wachstumsphase des Arbeitsmarktes abrupt beendet; unmittelbar betroffen sind rd. 59 Millionen Jobs in Europa (»26% des gesamten Arbeitsmarktes), und zwar durch Kurzarbeit, Gehaltseinbußen oder Totalverlust des Arbeitsplatzes.
- Vor Eintritt der Krise war in 85% aller untersuchten Regionen ein starker Anstieg der Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen, unterstützt von innereuropäischen Migrationsbewegungen (rd. 16 Millionen Beschäftigte) von Ost nach West oder von den südlichen in die nördlichen Länder.
Was passiert nach der Krise? Wie sieht die neue Normalität aus?
MGI kommt zu dem vielleicht für viele überraschenden Ergebnis, dass es selbst nach einer Erholung der Wirtschaft zu einer Verknappung an Fachkräften kommen könnte, und zwar trotz eines massiven Trends zur Automatisierung!
Was sind die Gründe?
- Aufgrund der demographischen Entwicklung wird Europas Erwerbsbevölkerung bis 2030 voraussichtlich um 4% (rd. 13,5 Millionen) schrumpfen; der Trend zu verkürzten Arbeitszeiten (4-Tage-Woche) könnte das Arbeitskräfteangebot zusätzlich um weitere 2% schrumpfen lassen.
- Nach Berechnungen von MGI ist damit zu rechnen, dass bis 2030 konservativ geschätzt rd. 53 Millionen Jobs (oder mehr!) durch Automatisierung verloren gehen könnten, wenn sie nicht durch neu (durch Automatisierung) entstehende Jobs kompensiert werden können.
- Selbst bei einer Schrumpfung von lediglich 4% käme es allein in den 48 dynamischsten urbanen Wirtschaftsregionen zu einem Fachkräftemangel von rd. 2,5 Millionen Menschen, dieser wäre nur durch gezielte Migration zu decken.
Mehr als die Hälfte der Europäischen Erwerbsbevölkerung ist durch demographischen und technologischen Wandel massiven Veränderungsprozessen ausgesetzt:
- Die rasant fortschreitende Automation von Produktions- und insbesondere Dienstleistungsprozessen führt dazu, dass 94 Millionen Arbeitskräfte neue Fähigkeiten erwerben müssen; das bedeutet nicht zwangsläufig den Verlust des Arbeitsplatzes, sehr wohl aber ein gigantisches Umschulungs- und Trainings-Programm zum Erwerb Technologie-induzierter Skills.
- Man schätzt heute, dass die Halbwertzeit von Wissen zwischen 4 bis 5 Jahren beträgt; ein Erwerbstätiger mit einer aktiven Berufstätigkeit von 30 Jahren müsste demzufolge sein gesamtes Wissen bis zu 6 mal umschichten.
- MGI geht davon aus, dass bis 2030 rd. 21 Millionen Menschen einen neuen Beruf erlernen müssen; betroffen sind hiervon typischerweise Tätigkeiten, die keine tertiäre Ausbildung erfordern. Da dies für die neuen Jobs i.d.R. aber erforderlich ist, wird es nach Expertenmeinung in bestimmten (leicht-automatisierbaren) Branchen wie dem Handel, vielen Dienstleistungen aber auch im produzierenden Gewerbe zu massiven Jobverlusten und Verwerfungen kommen.
- Es zeigt sich, dass gerade die aktuell am stärksten von den Folgen der Corona-Krise betroffenen Berufsgruppen auch diejenigen Tätigkeiten ausführen, die am leichtesten zu automatisieren sind; das bedeutet, dass diese Arbeitnehmer ein besonders hohes Maß an Flexibilität und „Wechselwilligkeit“ aufbringen müssen, um nicht aus der aktiven Erwerbsbevölkerung ausgesteuert zu werden!
Aus dieser Situation ergeben sich lt. MGI 4 Imperative:
- Gezielte Adressierung des absehbaren Talent- und Skill-Defizits
- Verbesserung des Zugangs zu den Arbeitsmärkten in den Wachstumsregionen, z.B. durch Telearbeit, Work-from-Home, etc.
- Revitalisierung wachstumsschwacher Gebiete und Arbeitsmärkte (40% der europäischen Arbeitskräfte werden bis 2030 in strukturschwachen Gebieten leben!)
- Verstärkung der Kooperation von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und sonstigen öffentlichen und privaten Stakeholdern.
Was dies für die Rekrutierung geeigneter Mitarbeiter zukünftig bedeutet und welche Bedeutung der digitalen Transformation des HR-Bereichs dabei zukommt, erfahren Sie in unserem nächsten Blog.
[1] statista 2020; Befragt wurden 1.788 Bewerber und 130 Recruitingverantwortliche
[2] McKinsey Global Institute: „The Future of Work in Europe: Automation, Workforce Transitions, and the Shifting Geography of Employment, June 2020